Mittwoch, 3. Dezember 2008

Westliche Ruhe in Sarnath

Man hasst oder man liebt Indien und manche tun beides im Wechsel, heisst es. Es gibt eine Sache, die ich wirklich hasse hier. Zum dritten Mal macht mir mein Magen ernstlich zu schaffen, obwohl ich mich brav an alle Regeln halte: ich esse vegetarisch, ich esse keine schrägen Western style Sachen, ich esse gekochte Sachen, viel Reis, Chapati. Und trotzdem hat es mich zum dritten Mal einen Tag lahm gelegt, was die langen Nachtzugfahrten auch nur zu einer bedingten Freude macht. Aber nun ja, ich scheine mit meinen fünf Wochen Indien schliesslich vor allem einen Kurs in Ruhe und Gleichmut gebucht zu haben. Diese Dinge kommen und gehen und sind nun auch fast überstanden.

Zum Glück habe ich in Varanasi den perfekten Platz gefunden, um ein wenig kränklich zu sein. Rachanas Familie hat mich sofort wie eine Tochter aufgenommen. Das ist nun schon das dritte Mal, dass ich adoptiert werde. Es ist wundervoll, wie sich die Leute um mich kümmern, beginnend mit den Quakern, Kavita, Lorna und Karl und nun mit Rachana und Familie. Hier ist auch Rachanas Nichte, die elfjährige Sandra. Sie ist sehr gesprächig und spricht ein ausgezeichnetes Englisch. Rachanas Bruder Anurag holte mich auf seinem Motorrad vom Bahnhof vom dreieinhalb Stunden verspäteten guter Dinge vom Zug ab. Mit meinem großem Rucksack auf meinem Rücken, der kleine vor ihm düsten wir mit dem Gefährt ohne Tacho und Helm munter über lustige Schlaglöcher zwischen Kühen, Fussgängern, Bussen und Rickshaws und am Ende gar einer mit Blumen geschmückten Leiche. Aber er ist der Typ, der einen das als ganz unproblematisch und sicher erleben lässt und ich habe mich vor allem amüsiert. Rachanas Mutter arbeitet ich glaube als Direktorin für eine Schule mit 300 Kindern. Sie sagt, ihr Chef sei etwas unzufrieden mit ihr, weil sie zu wenig durchgreift und lieber Sanftmut regieren lässt. Überhaupt ist sie eine sehr liebevolle Person, die mich nach meinen Essensvorlieben befragt und mich gleich am ersten Abend in den Arm nahm, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Rachanas Vater arbeitet als Redakteur für mehrere hiesige Zeitungen und kommt abends spät heim. Die Kinder fragen sie, ob sie nicht zu ihnen ziehen möchten, aber sie möchten lieber nützlich sein, der Gesellschaft dienen. Sie sind sehr gebildet und sehr liebenswürdig und leben ohne jeden Schnickschnack. Ich glaube, sie sind sehr glücklich.

Heute war ich in Sarnath, einem Dorf zehn Kilometer von Varanasi entfernt. Mir wurde ein Student zur Seite gestellt, Jackma, den Anurag, Rachanas Bruder kennt. Oh, wie wunderbar war es am Ort von Buddhas Erleuchtung! Man konnte sich in einen Park setzen, für eine volle halbe Stunde und niemand wollte was von uns. Kein Amärmelreissen von armen Bettlerkindern, keine wildgewordenen Händler- come and look!- und keine Blumen, die ich irgendeinem Gott gegen Bezahlung opfern sollte. Ruhige, freundlich dreinblickende und meditierende Mönche, ein kleiner Zoo mit freilaufenden Streifenhörnchen, riesigen Vögeln, Hirschen, Kaninchen, Krokodilen und Schildkröten und Tempeln mit meditierenden goldenen Buddhas. Und das allererstaunlichste: es gab sogar Abfalleimer an diesem wundersamen Ort und am Ende fuhr Jackma mit mir gar in eine Shoppingmall. Nicht, dass ich sowas irgendwann vermisst hätte, aber es wirkte doch alles sehr westlich-beruhigend. Und es soll hier sogar Supermärkte geben, hiess es. Wenn das stimmt und es dort auch wirklich Käse gibt, werde ich für die Familie Kässpatzen machen! Ansonsten habe ich echte Probleme, ein passendes Geschenk zu finden. Hm.

Im Zug hierher traf ich einen Australier, Daniel, der für zwölf Monate eine grosse Weltreise macht. Ich fragte ihn, wie er das finanziert. Er meinte, das sei ganz üblich in Australien, dass man mal ein Jahr Auszeit nähme und mit dem Plan im Kopf realisiert man es einfach und beschliesst auch, dass nichts Schlimmes passieren wird und dann wird auch alles gut. Diese Erfahrung teile ich: wenn man erst einmal den Entschluss gefasst hat, geht sehr vieles sehr viel leichter. Schon nach einem Monat merke ich, wie viel Sicherheit mir all das gibt. Ich glaube, man sollte einfach tun, was einem die Intuition sagt. Und wenn sie einen in die weite Welt schickt, wird das schon seinen guten Grund haben.

Ich habe sehr viele sehr liebe Menschen kennengelernt, viel Hilfe erfahren, Spass gehabt und Gelassenheit gestärkt. Mir bleibt vor allem die Fragen, die mir hier auch gestellt wurden: warum sind so viele Leute im reichen und sicheren Deutschland so unglücklich? Wovor haben wir soviel Angst? Warum sprechen die Leute nicht mehr miteinander und vereinsamen so oft?

Keine Kommentare: