Montag, 1. Juni 2009

Lügen und Zeiten der Klarheit




Leo ist ausgerastet. Nach einer herrlichen Wanderung kamen wir auf seinen Wunsch einen Tag früher im Motorcamp an. Am nächsten Tag war er schlechter Dinge und ich liess ihn allein. Da ist er spazieren gegangen, rief mich dann an und sagte mir, ich solle das Auto sofort packen, wir müssten weiter. Ich meinte, er solle erstmal heimkommen, dann könnten wir die Route besprechen. Er kam heim, packte ein paar seiner Sachen zusammen und eines meiner teuren Merino – Shirts und dampfte ab. Ich war fassungslos, lief ihm nach und fand ihn im Park, wo er übernachten wollte. Er wollte mir seine „wahre Geschichte“ erzählen, während er eine Flasche Sekt trank. Die Geschichte war wild und liess mich ihn schrecklich bedauern ob soviel durchlittenen Leids. Allerdings hat sie sich als vollständig falsch herausgestellt, als ich seine Schwester anrief und mich erkundigte, was wirklich dran ist. Ich habe ihm eine Matte und einen Schlafsack in den Park gebracht, weil es wirklich kalt war. Er rangelte noch kurz mit mir, er wolle im Auto schlafen, ich stiess ihn weg und sagte ihm, dass ich ihn betrunken nicht aufnähme. Er hat mich wohl in der Nacht noch gesucht, aber ich schlief bewusst woanders und hatte auch absichtlich das Handy aus. Nun ist er weitergereist, in eine andere Stadt. Er rief an, er wolle mit mir weiterreisen. Es täte ihm alles schrecklich Leid. Ich war natürlich vollständig platt. Während all der Zeit, da Leo und ich zusammen waren, hat er nicht getrunken, das hat auch seine Schwester bestätigt. Ich wusste um eine Alkoholvergangenheit, dachte aber, es sei eine Vergangenheit und war mir nicht sicher, ob er Alkoholiker war. Er sagte immer, er trinke nicht mehr, das ändere die Menschen, das sei nicht gut. Er ist der liebste Mensch, wenn er nicht trinkt, wenn er aber trinkt, scheint er sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Ich hab ihm gesagt, er müsse sich Hilfe suchen und das will er im Grunde auch. Seine Schwester fürchtet, er wird sich umbringen, wenn er das nicht in den Griff kriegt. Viel kann ich ihm nicht helfen, ich habe ihm versprochen, dass wir Freunde bleiben. Ich wünsche ihm das Beste, er ist ein wunderbarer, aber ein kranker Mensch. Ich hege keinen Groll, er tut mir einfach nur sehr, sehr Leid. Wohin er geht, verbrennt er seine Brücken, hat Joan, seine Schwester mit Tränen in der Stimme, erklärt. Lügen jedenfalls vertrage ich gar nicht gut. Warum all das- vielleicht weiss er es, vielleicht erzählt er es mir irgendwann.

Ich habe mich eilig auf den Weg gemacht und fahre nun die sogenannte Scenic Route ganz im Süden Neuseelands entlang. Jan und Brian, das Paar vom Hollyford Track haben mich zu sich eingeladen und ich freue mich über soviel Gastfreundlichkeit. Auf meinem Weg kam ich an eine tolle Limestone Höhle, die ich freilich wacker und teils durch Wasser durchwanderte. Wo die Höhle ist, war früher Meer, das sie ausgeschwemmt hat, jetzt sind da faszinierende Steine und Glühwürmchen. Ich fuhr bis Tuatapere, einem skurrilen kleinen Örtchen mit einem Bushman's Museum,das ich heute noch besuchen will. Das Örtchen bezeichnet sich als Sausage Capital. Warum, das finde ich noch raus. Mein Holidayparkbesitzer besitzt auch noch den Allzweckladen hier, ein Hostel und ein Pub, zwei Katzen, einem zahmen Reh und einer zahmen Bergziege und den sprechenden Papagei Brandy, der gern auf mir herumsteigt. Angefangen hat er mit einem Fish and Chips Shop. Von Tuatapere startet der Hump-Ridge Track mit alpinen Abschnitten und viel Meer. Da es aber bis auf 200 Meter schneien sollte, liess ich das lieber bleiben und machte mich nur die sechs Stunden an Meer durch den Busch entlang auf. Normalerweise brauche ich die Zeit nicht, die die Zeichen angeben und trödelte vor dem Start etwas herum. Um zwölf war ich am Start und marschierte in Hochgeschwindigkeit los, um nicht in die Dunkelheit zu kommen. Ich genoss den Busch und war tief in Gedanken versunken, ganz das rechte Heilmittel nach dem Leoschock. Einmal blickte ich auf und sah etwas langes Weisses durch den Wald huschen. Lang, das hiess mannshoch. Dann war es weg. Ich fragte mich, ob ich nur einen seltsamen Lichteinfall gesehen hatte, oder schon am Halluzinieren war. Schnell lief ich weiter und stiess auf sieben Surfer, die ihre Bretter sechs Stunden in den Wald trugen, um dort surfen zu gehen. Da kann man getrost von Leidenschaft sprechen und ich war erleichtert, weil es nur ein unerwartetes Surfbrett war, das ich da gesehen hatte. Sie waren nicht sehr schnell, da sie Zutaten für wahre Festmahlzeiten auf dem Feuer dabei hatten: Gulasch, Kartoffeln, gebackene Bananen, einige Flaschen Alkohol, die Neoprenanzüge und die Bretter. Mit dem schnellsten von ihnen schaffte ich es nach fünfeinhalb Stunden zur Hütte, einer alten Schule. Was tut eine Schule in soviel Abgeschiedenheit? Port Craig wurde 1917 als Holzverarbeitungsstätte in Betrieb genommen. 200 Menschen lebten und arbeiteten dort und ich konnte noch allerlei Relikte anschauen. Die Kosten für eine so abgelegene Produktionsstätte waren aber zu hoch und 1928 hat man von einem Tag auf den anderen den Betrieb eingestellt. Nun schlafen also die Wanderer in der alten Schule. Ich wollte am nächsten Tag wieder rauswandern, fand dann aber die Gegend so spannend, dass ich noch einen Tag blieb und lange am Meer sass. Dort sieht man wohl hie und da Delfine, Wale, Seehunde und Pinguine. Als ich gerade dabei war, mit meinem Geschau aufzuhören, da mich die Sandfliegen verspeisen wollten, sah ich erst einen lustigen Schwimmvogel, der aber eher einer schwarzen Ente denn einem Pinguin und glich und dann etwas kleines Schwarzes, das immer wieder auftauchte. Es war die Flosse eines Hector Delfins, des kleinsten Delfins der Welt, die hier mit einer Population von ungefähr hundert Tieren herumschwimmen und gar mit den Surfern schwammen. Ich war glücklich, einen von ihnen zu sehen. Der Marsch zurück zum Auto war voller guter Gespräche mit den Jungs. Das Gute am Reisen ist schliesslich, dass man viele Menschen meist nur einmal sieht. Da kann man die Zeit auch für eine ehrliche Unterhaltung nutzen. Sie sind alle recht engagiert, einer hat für ein Jahr eine Schule in Rumänien mit aufgebaut. Alle haben die verschiedensten Dinge in ihrem Leben getan und sind für längere Zeit gereist, was hier nicht nur normal ist, sondern erwartet und sehr unterstützt wird. Wo ist die OE, die overseas experience? Alex hat mir erzählt, dass es ihn gelehrt hat, dass es fast nur die Grenzen gibt, die man sich selbst setzt. Da kann ich ihm nur recht geben.

Ich lese, nein, fresse fast ein Buch mit dem Titel „What should I do with my life“ von Po Bronson. Der Autor hatte einen langen gewundenen Weg, bis er endlich zu seiner Leidenschaft, dem Schreiben stehen konnte. Wie andere Menschen zu dem finden, was sie wirklich mit ihrem Leben anfangen wollen, hat er in vielen Treffen und Interviews mit sehr unterschiedlichen Leuten herausgefunden. Die Geschichten faszinieren mich sehr und bringen mich zum Nachdenken darüber, was ich nun weiter tun will. Ich bin immer meinen Leidenschaften gefolgt. Habe mich durch die Schule geboxt und in die Uni geschoben, mich sportlich trainiert und meinen Kopf so gut angestrengt, wie ich nur konnte. Ich habe mit Philosophie das Fach studiert, für das ich mich wahrhaft begeistern konnte und in den Hintergrund gestellt, dass ich damit nicht Lehrer werden konnte, wie ich es eigentlich seit langem im Sinn hatte. Daher wohl eine gewisse Ratlosigkeit nach dem Studium und ein bisschen Hin und Her. Ich spüre meine Berufung darin, zu helfen und das nicht nur ehrenamtlich. Als Lehrer könnte ich ein wenig Stoff vermitteln und positive Energie verbreiten und mich um ein paar Problemfälle kümmern. Ich hätte meine intellektuelle Spielerei und jede Menge Gelegenheit, meinen Unterricht zu ändern, sollte ich was Neues brauchen. Das Festlegen fällt mir immer noch schwer, ich habe es immer genossen, viele verschiedene Dinge in Angriff zu nehmen. Ich habe die Leute oft beneidet, die immer wissen, was sie wollen und darauf hin arbeiten. Ich habe mich gefragt, wie sie so sicher sein können. Ich glaube, viele sind sich gar nicht sicher und tun einfach, was von ihnen erwartet wird. Eine Familie, ein grosses Haus, ein schickes Auto. Auf dieser Reise bin ich nun allein, weit weg von den Erwartungen anderer, oder zumindest doch von vielen und will herausfinden, wie es weitergehen soll. Ich gebe nicht auf mit meiner Suche. Ich habe keine Verantwortung für ein Kind oder andere dringende Verpflichtungen, sondern nur die, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich habe viel für mich getan, nun will ich meine Energien anderen widmen. Lehrer werden? Ich denke viel daran und es hat mich nie losgelassen!

Wenn ich daran denke, Neuseeland zu verlassen, werde ich ein wenig traurig. Mir ist hier soviel Gutes widerfahren und ich habe mich in die Natur verliebt. Früher kannte ich diese Weite nicht, diesen Busch, die Tiere. Meine Sehnsucht nach grösseren Städten verblasst zusehends und ich will vor allem draussen sein, die beschneiten Berge direkt vor meiner Nase, das Meer einen Spaziergang weit weg. Das vermutlich trockene Australien lockt mich momentan gar nicht. Dort müsste ich aber nicht im Auto frösteln...

Mit den vielen Telefonaten wegen Leo wird mein Budget knapp, auch wenn ich wirklich sehr, sehr sparsam bin und ich werde mir bald wieder einen Job suchen. Ich laufe in meinem Op-Shop-Klamotten herum, koche selbst und schlafe im Auto oder in Hütten, für die ich bereits mit meiner Mitgliedskarte bezahlt habe. Eine Sorge ist, dass meine momentane Untermieterin im Juli ausziehen wird und ich einen neuen Untermieter brauche, wenn ich Australien noch sehen will ohne vollständig bankrott zu gehen. Ich mag die vielen kleinen Probleme, die sich täglich stellen, von der Autoisolierung zur nächsten Übernachtung zur Frage, was sich nun zu tun und anzuschauen lohnt und worauf ich verzichte. All das hat mich sehr vom Konsum abgelenkt, ich komme gut klar mit dem Zeug, das ich habe, alles andere als das wirklich Nötige habe ich daheim oft nur aus Langeweile gekauft, wie ich gestehen muss. Ich bin eine etwas andere Person,vielleicht lässt es sich besser beschreiben als noch etwas mehr kompromisslos ich: meist ein wenig Matsch an der abgerissenen Wanderhose und immer weiter weg von Parfüm und Glamour.

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